Die einzige Wahrheit by Jodi Picoult

Die einzige Wahrheit by Jodi Picoult

Autor:Jodi Picoult
Die sprache: de
Format: mobi
ISBN: 9783492953290
Herausgeber: Piper Verlag
veröffentlicht: 2011-10-12T09:15:19+00:00


10

Ellie

Oktober

Nach drei Monaten bei den Fishers konnte ich mir kaum vorstellen, daß ich noch vor gar nicht langer Zeit ein reiner Stadtmensch gewesen war. Leider fielen die letzten Wochen vor Katies Prozeß mitten in die Erntezeit, was meine Hoffnungen, die Familie würde mich bei der Vorbereitung der Verteidigung unterstützen, zunichte machte. Aaron Fisher hatte jetzt nur zwei Dinge im Kopf: rechtzeitig den Tabak ernten und die Silos füllen. Und ich mußte mit anpacken.

Ich ging mit Katie über die üppigen Tabakfelder, knapp anderthalb Hektar, so grün, daß sie auch Reisfelder hätten sein können, und ließ mir zeigen, welche Blätter schon gepflückt werden konnten. »Ich finde, die sehen alle gleich aus«, sagte ich frustriert. »Die sind ja alle grün. Ich dachte immer, man wartet, bis sie anfangen, braun zu werden.«

»Nicht bei Tabak. Sieh dir die Größe an, hier.« Sie knipste ein Blatt ab und legte es behutsam in einen Korb.

»Stell dir all den Lungenkrebs hier auf dem Feld vor«, murmelte ich. Aber Katie blieb unbeeindruckt. »Die Ernte bringt Geld«, sagte sie nüchtern. »Von Milchwirtschaft kann man nur schwer existieren.«

Ich bückte mich und wollte mein erstes Blatt pflücken. »Nein!« rief Katie. »Das ist zu klein.« Sie hielt ein anderes, größeres Blatt hoch.

»Vielleicht sollte ich das Zeug gleich in Pfeifen stopfen oder Gesundheitswarnungen auf die Schachteln kleben.«

Katie verdrehte die Augen. »Der nächste Schritt ist, sie aufzuhängen. Aber wenn du das Pflücken nicht lernst, laß ich dich gar nicht erst in die Nähe von so einem anderthalb Meter langen, spitzen Spieß.«

Ich lachte und beugte mich wieder zu den Pflanzen. So ungern ich es auch zugab, ich fühlte mich besser als je zuvor. Als Anwältin wurde immer nur mein Verstand gefordert, nicht mein Körper; auf der Farm der Fishers wurden beide gestärkt. Für die Amischen war schwere körperliche Arbeit ein Grundprinzip des Lebens, und sie beschäftigten kaum je auswärtige Hilfskräfte, da sie den Strapazen in der Regel nicht gewachsen waren. Aaron hatte zwar nichts gesagt, aber ich wußte, er rechnete fest damit, daß ich, bevor die Ernte eingebracht war, schluchzend zusammenbrechen oder mich vom Feld schleichen würde – womit bewiesen wäre, daß ich keine von ihnen war. Daher war ich entschlossen, ihm zu beweisen, daß er sich irrte. Aus dem gleichen Antrieb hatte ich bereits Anfang August bei der Weizenernte geschuftet wie der Rest der Familie, beseelt von der Hoffnung, daß Aaron, wenn er sah, daß ich auf ihm vertrautem Boden meine Frau stehen konnte, mir vielleicht auch auf meinem eigenen Gebiet Achtung entgegenbringen würde.

»Ellie, was ist? Kommst du?«

Katie stand da, ihren vollen Erntekorb zwischen den Füßen. Auch mein Korb war fast voll. Gott allein wußte, ob die Blätter, die ich ausgesucht hatte, tatsächlich schon erntereif waren – ich nahm ein paar von den größeren und drapierte sie obenauf, damit Katie nichts merkte. Dann folgte ich ihr in einen langen leeren Schuppen.

In den Holzwänden des Schuppens waren große Ritzen, so daß stets ein leichter Luftzug wehte. Ich setzte mich auf einen Strohballen neben Katie und sah zu, wie sie einen Spieß nahm, der so lang war wie sie.



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